Geheimnisse sind heute wertvoller als früher

Warum persönliche Heimlichkeiten in Zeiten von Social Media und Co. sogar an Wert gewinnen.

Interview mit Medienpsychologe Prof. Dr. Frank Schwab von der Universität Würzburg über die Bedeutung von Geheimnissen für Mensch und Gesellschaft; warum sie in der heutigen vernetzten Welt immer wichtiger werden – und dennoch viele im Web zu sorglos agieren und ihre digitalen Geheimnisse aufs Spiel setzen.

Im Auftrag von Kaspersky Lab hat Arlington Research je 2.000 volljährige Personen in Deutschland und Großbritannien online über ihre Wahrnehmung digitaler Geheimnisse und ihren Umgang mit diesen befragt. Die Teilnehmer wurden repräsentativ nach Geschlecht, Alter und Wohnort ausgewählt. Die Ergebnisse sind im Report „Can you keep a secret?“ abrufbar. Wir haben zum Thema digitale Geheimnisse mit Medienpsychologe Prof. Dr. Frank Schwab von der Universität Würzburg gesprochen.


Aus Sicht der Psychologie – warum sind Geheimnisse für Menschen so wichtig?

Geheimnisse sind auch eine Art soziales Schmiermittel und zeichnen uns aus. Es gibt zum Beispiel nur wenige Tiere, die Geheimnisse haben. Menschen hingegen können einschätzen, wie andere ticken. Daher wissen wir, wie wir etwas verheimlichen können. In der Fachsprache nennen wir das ‚Theory of Mind‘ . Diese Fähigkeit bedingt aber auch Wechselwirkungen: Wir können einerseits Geheimnisse verbergen, allerdings besitzen wir auch die Fähigkeit, den anderen zu enttarnen.

Kann man das auch auf Gesellschaften übertragen?

Diese Theorie gilt insbesondere für Gesellschaften, weil Menschen nicht wie Tiere als Schwarm oder Herde, sondern als soziale Wesen interagieren. Wir sind in der Lage, Mitmenschen zumindest teilweise zu analysieren – umso wichtiger sind deshalb die Rückzugsmöglichkeiten in das Private und die dort gehegten Geheimnisse.

Hat sich dieses Konzept durch die digitale Welt mit Internet und Social Media verändert?

Auf jeden Fall. Moderne Medien reduzieren Kommunikationsbarrieren, wirken beschleunigend. Während sich früher ein enttarntes Geheimnis erst nach Tagen oder Monaten ausgebreitet hat, passiert das in der heutigen vernetzten Welt in Echtzeit. Die Konsequenz: die Wahrung von Privatheit und persönlichen Geheimnissen ist definitiv schwieriger als noch vor einigen Jahrzehnten.

Das heißt, ein Geheimnis ist heute für die Menschen sogar wichtiger als früher?

Ja, es bekommt mehr Wert, wenn man es im Kontext sieht. So könnten Geheimnisse an Wert gewonnen haben, weil ihr Verlust teurer geworden ist. Gerade digital gehütete Geheimnisse können jederzeit an die Öffentlichkeit gelangen – zum Beispiel durch ein Datenleck. Ist in der analogen Welt ein Dorfbewohner fremdgegangen, musste er nur umziehen, um wieder eine weiße Weste zu haben.

Eine Kaspersky-Befragung zeigt einen signifikanten Unterschied zwischen Wahrnehmung und dem tatsächlichen Verhalten der Deutschen in diesem Zusammenhang: einerseits betonen sie die Wichtigkeit und das Vermögen Geheimnisse zu wahren, andererseits scheinen sie sehr sorglos im Web zu agieren und riskieren, dass Geheimnisse ans Tageslicht kommen. Warum diese Diskrepanz zwischen Denken und Tun?

In der Psychologie kennen wir das nur zu gut: Einstellung und Verhalten von Menschen klaffen oftmals auseinander. Wir legen einerseits wert auf Privatheit und Geheimnisse, gleichzeitig sind nicht alle gewillt, in ein sichereres Verhalten zu investieren. Warum sollte ich – wenn es die anderen auch nicht machen – mein Passwort schützen und meine Geheimnisse besonders akribisch verstecken? Diese Verhaltensinvestition machen wir nur, wenn wir dazu gedrängt werden. Würde eine Person die ganze Zeit neben uns herlaufen und sagen „Ich weiß, wo du warst! Ich weiß, wo du hingehst!“, dann würden wir uns möglicherweise mehr Gedanken um Passwortschutz machen.

Wir sprechen in der Medienpsychologie vom ,Privacy Paradox‘-Phänomen. Hier vermutet man unterschiedliche Ursachen: Erstens  gehen Internetnutzer nach einem Kosten-Nutzen-Kalkül vor. Dabei mögen sie die Vorteile der Datenpreisgabe schlussendlich höher gewichten, als die Gefährdung ihrer Privatsphäre. Zweitens setzen sich möglicherweise Daumenregeln, sozialen Normen und Emotionen gegen rationale Entscheidungen durch. Erfahrungen und Persönlichkeitszüge beeinflussen die Risikowahrnehmung. Lieber jetzt die Belohnung als in Zukunft sicherer Surfen. Drittens führen unvollständige Informationen zu Unsicherheit bei den Nutzern. Viele denken, dass sie nicht wissen, was sie selbst für den Schutz ihrer Daten im Internet tun könnten. Die Wahrnehmung von Privatsphäre hängt zudem vom Kontext oder sozialen Umfeld ab. Was machen die anderen?

Ist auch die Suche nach dem schnellen K(l)ick ein Grund für zu sorgloses Verhalten?

Absolut, wir reagieren nicht immer rational, sondern oft emotional. Wir lassen uns von persönlichen Gewohnheiten lenken und sind darauf konditioniert, dass immer alles sehr schnell gehen muss – etwa spontan ein Bild aus dem Urlaub posten, ohne ständig mögliche Konsequenzen zu bedenken. Adäquater Schutz würde mehr Aufwand bedeuten, auch wenn für uns Datensicherheit und die Wahrung von Geheimnissen ein hohes Gut sind. Ein gutes Beispiel ist hier der Umweltschutz. Menschen, die die ,Fridays for Future‘-Bewegung unterstützen, sind nicht davor gefeit, Kaffee aus dem Pappbecher zu trinken oder Auto zu fahren.

Das Verlangen nach dem schnellen Post spielt also eine Rolle?

Durchaus, aber hier können wir nicht pauschalisieren. Es gibt unterschiedlich stark Impuls-kontrollierte Menschen. Man muss das auch lernen. Wie etwa beim sogenannten Überraschungsei-Phänomen, das bei Kindern in diversen Untersuchungen erforscht wurde. Das Setting: Im Raum liegt ein Überraschungsei; der Tester verlässt den Raum und stellt ein zweites Ei in Aussicht, wenn es fünf Minuten später noch nicht verspeist wurde. Und das bekommen viele eben nicht hin. Nach dem Motto: „Ich will jetzt gleich online gehen. Ich will sofort mein Selfie posten, ich will nicht eine halbe Stunde lang AGBs lesen!“. „Ach Schwamm drüber, sollen sie doch meine Daten haben. Ich weiß sowieso nicht, für was das gut ist“.

Sie haben die Punkte Datenschutz und Sicherheit schon angesprochen. Warum hapert es bei der Sicherung persönlicher Informationen?

Datenschutz ist fraglos eine wichtige Angelegenheit; und dann gibt es Institutionen, die sich darum kümmern sollen. Aber uns leuchtet das nicht sofort ein, weil es gleich wieder Unannehmlichkeiten produziert. Datenschutz bedeutet: Wir müssen uns schützen, doch eine entsprechende Umsetzung ist schwierig. Eigentlich möchte man doch nur spielen oder bei Amazon einkaufen und jetzt kommt dieser Datenschutzmensch daher und nervt mich die ganze Zeit mit seinen Auflagen, Umwegen und Regelungen. Das leuchtet uns nicht ein. Wir halten uns auf der einen Seite für wichtig, sind aber nicht gewillt, entsprechendes Investment im Verhalten zu zeigen, um das dann auch umzusetzen.

Sind die Menschen datenschutztechnisch überfordert? Zum Beispiel, dass sie für viele Websites und Plattformen ein neues, einzigartiges Passwort vergeben müssen?

Ja, weil es die Investitionskosten hochtreibt. Wenn man wirklich jedem den Nutzen starker Passwörter erfolgreich vermitteln würde, dann sähe es vielleicht anders aus. Es gibt ja auch technische Möglichkeiten wie Passwort-Manager [https://www.kaspersky.de/downloads/thank-you/password-manager-pc], diese werden nur zu wenig genutzt. Das bedeutet: die Hürde für sicheres Online-Verhalten wird immer höher. Und das schreckt viele ab. Ich wollte doch nur das coole Bild von mir am Strand posten – mit dem Ziel, dass 100 Freunde sagen „hey, du siehst ja klasse aus! Hast du abgenommen?!“. Sicherheitsmaßnahmen machen nicht wirklich Spaß, sich zu präsentieren und sein Image zu pflegen schon. Das eine ist Vergnügen, das andere erstmal Arbeit.

Sie haben jetzt über die Nutzer allgemein gesprochen. Gibt es auch Unterschiede hinsichtlich Geschlecht oder Alter?

Es gibt einen Geschlechtsunterschied. Frauen agieren hier prinzipiell vorsichtiger, weil sie im Laufe der Evolution mehr in Sicherheit investieren mussten – und Männer sind eher als „Danger Freaks“ bekannt, vor allem innerhalb des Zeitraums von der Pubertät bis zur Einfahrt in den Hafen der Ehe. Für das Alter gilt ähnliches. Männer werden mit zunehmendem Alter tendenziell vernünftiger, weil sie etwas zu verlieren haben: Reichtum, Haus oder Beziehungen. Dies bedeutet in der Praxis: fliegt ein Geheimnis auf, können all diese Errungenschaften schnell abhanden kommen.

Die Deutschen würden sich – sollte ein enges Familienmitglied von einem Geheimnis erfahren – laut der Kaspersky-Umfrage zu 18 Prozent gestresst und zu 23 Prozent verletzt fühlen. Hingegen macht es 24 Prozent nichts aus, da sie auf das Verständnis der Familie bauen und vertrauen. Woher kommen diese Gegensätze?

Aus der Psychologie wissen wir, dass Menschen unterschiedliche Bindungstypen sind. Es hängt schon davon ab, wie man genetisch veranlagt ist oder welche Erfahrungen man mit Familie und Freunden gemacht hat. Und je nachdem kommen diese Prozentzahlen dann auch zustande.

Wie verarbeiten Menschen aus psychologischer Sicht die Tatsache, ständig Geheimnisse hüten zu müssen, die jederzeit ans Licht kommen könnten?

Wir können damit umgehen. Was wir nicht gewohnt sind, ist die Art wie das heute durch die digitalen Medien gemacht wird, und die Kosten dementsprechend ansteigen. Ein Beispiel: Dass meine Eltern enttäuscht sind, wenn ich mit guten Freunden zu viel Bier trinke, damit kann man umgehen. Allerdings sind solche Einschätzungen heute zunehmend schwierig. Das kann im Worst Case global gehen; Manche Geheimnisse haben in den falschen Händen das Potenzial, einen Shitstorm auszulösen. Es ist alles in Bewegung, daher ist der Markt, auf dem die Geheimnisse gehandelt werden, deutlich schwieriger zu kalkulieren – und das kann natürlich auch zu Stress führen.

Prof. Dr. Frank Schwab, herzlichen Dank für das spannende Gespräch. Wer wissen möchte, wie man in der heutigen Zeit digitale Geheimnisse schützt, der kann das hier nachlesen.

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